Best Practices

Maschinenbau trifft KI: ein Netzwerk mit Zukunftsperspektive

Ansprechpartner:

Emanuel Friehs
Ludwigstraße 10a
97070 Würzburg
0931/452 652-13
friehs@mainfranken.org

Die Haselnuss-Sortiermaschine

​​Hintergrundinfos: 

Projektlaufzeit - Meilensteine

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2013: Beginn Pflanzung Haselnussplantage

2019: Problemstellung wird deutlich

Juni 2020: Kick-off Bau Sortiermaschine

Anfang 2021: Anfrage Künstliche Intelligenz

2022: Fertigstellung Maschine

Wer? IFSYS Integrated Feeding Systems GmbH

Wo? Großbardorf

Was? Sondermaschinenbau-Unternehmen

Größe: 220 Mitarbeitende in 4 Ländern

Kerngeschäft: Zuführtechnik und Automation

Zielgruppe: Automobilindustrie

Kontakt: contact@ifsys.com

Wer? prognostica GmbH

Wo? Würzburg

Was? Beratungs- und Softwareunternehmen

Größe: 17 Mitarbeitende

Themenschwerpunkte: Predictive Analytics, Data Science und KI

Zielgruppe: Konzerne, große Unternehmen, KMU

Kontakt: info@prognostica.de

Was uns inspiriert? Zeuge davon zu sein, wie Kooperationspartner aus unserem regionalen Netzwerk mit Hingabe und Engagement ihre Potenziale bündeln, ausschöpfen und wie sie mit gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen Lösungen schaffen. Wenn es ihnen dabei noch gelingt, eine Begeisterung zu transportieren, die ansteckend ist, uns mitnimmt, und die uns dazu motiviert, selbst aktiv über Zukunftsperspektiven für das Projekt nachzudenken, sprechen wir von einem Best Practice Case, der zeigt, wie wertvoll funktionierendes Networking ist. So zum Beispiel, wenn die Betreiber einer Bio-Haselnuss-Plantage, ein Sondermaschinenbau-Unternehmen und ein Spezialist für Data Science zu einem Team werden mit dem Ziel, eine KI-unterstützte Maschine zu entwickeln, die geerntete und geknackte Haselnüsse sortiert. Was zunächst einfach klingt, gewinnt an Komplexität, je tiefer die Thematik beleuchtet wird. Emanuel Friehs, Projektleiter im mainfränkischen Kompetenznetzwerk Maschinenbau & Automotive, kurz MaKoMA, hat sich mit Geschäftsführer Adelbert Demar und Projektleiter Marco Seith der IFSYS Integrated Feeding Systems GmbH, Mitgründerin Dr. Kristina Krebs, Geschäftsführer Arne Müller und Softwarearchitekt Christian Grotheer von der prognostica GmbH und Geschäftsführer Markus Helmerich von der Haselnuss Großbardorf GbR getroffen, um über ihr gemeinsames Projekt, die Haselnuss-Sortiermaschine, zu sprechen.

„… am Schluss hat man was zum Anfassen - und sogar zum Essen.“

- Arne Müller

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Am Anfang steht das Problem. Wer schon einmal versucht hat, mit dem bloßen Auge 20 kg eines sehr individuellen Produkts, das sich in der Größe nur um wenige Millimeter unterscheidet, nach ebendieser zur sortieren, gerät relativ schnell an seine Grenzen. Das kommt auch bei der Haselnuss zum Tragen, weil die vorausgehende Röstung einen wesentlichen Faktor in der Produktverarbeitung darstellt: Die Nüsse müssen etwa gleich groß sein, damit sie - im Sinne eines optimalen Ergebnisses - gleichmäßig geröstet werden können. In einem zweiten Schritt folgt die Klassifizierung der gerösteten Nuss hinsichtlich bestimmter Qualitätskriterien, denn je nach Anwendung muss die Nuss unterschiedlich verarbeitet werden. Bereits auf dem Markt erhältliche Maschinen, die per Lochplatte die Größensortierung übernehmen, oder solche, die die Nuss per Farberkennung klassifizieren, stoßen bei verschrumpelten, halben oder anderweitig beschädigten Nüssen an ihre Grenzen. Die Lösung: Klassifizierung per Bildgebung, Sortierung per KI.

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„Wir haben einen Haselnussversteher, einen Haselnussknacker, dann gibt es die, die besser reden und verkaufen können und die mechanisch versierten aus technischen Berufen…“

- Markus Helmerich

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Aber von vorne: Wer sind unsere Akteure? Valeria, die Haselnuss Großbardorf GbR, ist eine Gemeinschaft 17 engagierter, nebenberuflicher Landwirte. Nach der Realisierung mehrerer gemeinsamer Projekte im Energiebereich entschließt sich die Gruppe im Jahr 2013 auf der Suche nach neuen Herausforderungen dazu, eine Gesellschaft zum Anbau und Vertrieb fränkischer Haselnüsse zu gründen. Hier steht Aufgabenteilung auf dem Plan. Jeder bringt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten ein - von der Ernte mit dem Sauger über die Baumpflege bis hin zum Knacken, zum Sortieren und zum Rösten ist zunächst alles Handarbeit. Weil die Bäume innerhalb der ersten fünf Jahre nicht tragen und insgesamt rund elf Jahre brauchen, um zum Vollertrag, der immerhin 80 Jahre lang Bestand hat, heranzureifen, stellt sich mehr und mehr die Frage: Wie können die Nüsse in Zukunft sinnvoll verarbeitet werden? Vor allem vor dem Hintergrund, dass immer wieder junge veredelte Bäume nachgepflanzt werden, und auf einen Ertrag von sieben bis neun Tonnen hingearbeitet wird, ist eine Sortierung von Hand keine dauerhafte Option.

„Die E-Mobilität reduziert in der Automobilindustrie verbaute Motorteile von 2.000 auf 200 Stück - wir müssen uns in andere Richtungen weiterentwickeln.“ - Adelbert Demar

An dieser Stelle kommt - als Sondermaschinenbauer mit dem Schwerpunkt Zuführtechnik - die IFSYS, die ebenfalls in Großbardorf angesiedelt ist, ins Spiel. Hier ist mit Marco Seith einer der Valeria-Gesellschafter als Projektleiter tätig. Er spricht Adelbert Demar, Mitgründer und Geschäftsführer der eigentlich auf die Automobilindustrie ausgerichteten IFSYS an, der sich dem Thema sofort annimmt, weil er ohnehin neue Geschäftsfelder erschließen möchte. Es entsteht im Rahmen eines Azubi-Projekts innerhalb der Abteilung Forschung & Entwicklung eine Maschine, die bis hin zur Bildgebung ausgefeilt wird. Die Nüsse werden mit Hilfe einer Förderscheibe durch ein Vakuum angesaugt und nach einer kurzen Transportstrecke wieder fallen gelassen. Auf der Hälfte der etwa 10 cm umfassenden Fallstrecke auf das Förderband erzeugt die Maschine von vier Seiten Bildaufnahmen der Nuss, sodass eine 360 Grad-Umsicht entsteht. Das Ergebnis der Klassifizierung liegt bereits Millisekunden später vor, das System weiß also schon wenn die Nuss landet, wohin sie sortiert werden muss. Nun wird sie - den Kriterien, die sie erfüllt, entsprechend - in den jeweiligen Abwurfbehälter transportiert. Dieser ist magnetgesteuert, sodass sichergestellt ist, dass das Produkt im richtigen Behälter ankommt.

„Das ist ein Paradebeispiel, wie KI in der Produktion zum Einsatz kommen kann - einfach toll.“

- Kristina Krebs

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Doch woher weiß die Maschine, um welche Art von Nuss es sich handelt? Hier greift regionales Networking in seiner besten Form. Durch die Vernetzung mit der JOPP Gruppe in Bad Neustadt und eine Veranstaltung des MaKoMA-Netzwerks bestehen bereits erste Kontakte zu Kristina Krebs, einer Mitgründerin der prognostica GmbH in Würzburg. Unter dem Claim „discover tomorrow“ ist das Unternehmen vorrangig auf Predictive Analytics und Data Science spezialisiert.

Durch die interdisziplinäre Aufstellung in den Fachbereichen Statistik, Mathematik, Informatik, Physik, Wirtschaftswissenschaft und Softwareentwicklung und die Aufgeschlossenheit für neue Themenbereiche - auch in Hinblick auf den Einsatz künstlicher Intelligenz - bleibt das Unternehmen bei den IFSYS-Verantwortlichen im Gedächtnis. Der Kontakt wird zum Auftrag durch die Anfang 2021 per E-Mail gestellte Anfrage: „Wir suchen eine KI, die Haselnüsse per Bildgebung sortiert, das ganze Setup steht schon - ihr könnt das doch!“ Zwar hat die prognostica zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Echtzeitdaten gearbeitet, aber das Feuer ist - ebenso wie bei den anderen Beteiligten - direkt entfacht. Was folgt, sind Hausaufgaben für Marco Seith, der insgesamt 300 vorsortierte Nüsse pro Produktkategorie durch die Maschine schickt und den Würzburgern die jeweiligen Bilder zum Training der KI zur Verfügung stellt.

„Die IFSYS hat ein Azubi-Projekt daraus gemacht, wir ein Geschäftsführer-Projekt“

– Christian Grotheer

Wo die IFSYS zusätzlich zu drei festen Projektmitarbeitende die Azubis für den Aufbau der Maschine einbezieht, um einen Modellauftrag durchzuspielen, nimmt sich bei prognostica neben Softwarearchitekt und Projektleiter Christian Grotheer und einem Data Scientist auch Geschäftsführer Arne Müller dem Thema an - sowohl der spannenden Aufgabenstellung als auch seines eigenen Informatikhintergrunds wegen. Für ihn ist das Projekt mit der Laufzeit von etwa zwei Jahren ebenso interessant wie faszinierend. Immer wieder begeistert er sich für das Engagement und die Flexibilität der Auftraggeber. Gemeinsam tüfteln die prognostica-Verantwortlichen mit einem Legomodell als Maschine und Schraubenzieherbits als Nussklassen am neuronalen Netz. Wir befinden uns mitten in der Coronakrise, weswegen die Kommunikation und alle Komponenten des Trainings remote stattfinden. Lediglich einmal trifft sich das Team in Großbardorf, um sich ein gemeinsames Bild von der Maschine und deren Entwicklung zu machen. Gearbeitet wird mit einem Universal-PC, der den Einsatz der Maschine jederzeit und überall möglich macht. Die Hardware-Standardisierung der Anwendung ist für prognostica ein wichtiger Faktor innerhalb des Projekts.

„Ich hab früher gelernt, du musst 50 fordern, damit du 25 kriegst.“

- Marco Seith

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Zur Integration kommt das Projektteam erneut nach Großbardorf - und ist erstaunt über die Arbeit des Netzwerkpartners. Die anfängliche Anforderung Marco Seiths, eine Verarbeitung von 50 Nüssen pro Sekunde möglich zu machen, wird zunächst als technisch nicht umsetzbar eingestuft. „Wenn wir eine schaffen, sind wir gut“, lautet das Credo. Dass die Maschine mittlerweile neun Nüsse pro Sekunde verarbeitet, und nicht die KI, sondern die Mechanik der begrenzende Faktor ist, hätte zum Zeitpunkt der Implementierung niemand erwartet. Grundsätzlich funktioniert die Sortierung nämlich beinahe auf Anhieb, Probleme treten lediglich bei der Ausschussware auf. Hier muss nachjustiert und mit mehreren Kategorien gearbeitet werden. Die Gründe für den Ausschuss sind vielfältig und die KI muss alle Eventualitäten kennen, um zuverlässig arbeiten zu können. Weil wir es mit Partnern zu tun haben, die dieselbe Sprache sprechen, das pragmatische Vorgehen am anderen schätzen und nicht auf straffe Planung und die Einhaltung von Meilensteinen, sondern auf einen agilen Projektverlauf setzen, kann beiderseits immer wieder schnell auf sich ändernde Anforderungen reagiert werden. Eine wesentliche Herausforderung innerhalb des Sortierungsprozesses ist auch, dass das Matching auf dem Weg der Nuss nicht verloren gehen darf. Weil mit der Sortieranlage und dem Standard-PC mit Industrie-Kamera zwei Welten aufeinander treffen, ist insbesondere die Integration der einzelnen Komponenten mit einem gewissen Aufwand verbunden. Aber es gelingt.

„Ich habe gelernt, dass eine saubere Kategorisierung und Zuordnung unsere Marktchancen klar erhöht“

- Markus Helmerich

Das Projekt hält sowohl für IFSYS als auch für prognostica spannende Lerneffekte bereit. Sind die Beteiligten auf Seiten prognosticas fasziniert vom Herzblut, der Flexibilität und der schnellen Umsetzung beim Maschinenbauer, so begeistern sich die IFSYS-Mitarbeitende für die frischen Ideen der KI-Expert:innen und die Leistungsfähigkeit des neuronalen Netzes. Auch den Wert der Treffen vor Ort lernen die Projektbeteiligten ganz neu zu schätzen. Vieles funktioniert remote - aber nichts ersetzt die Erfahrungen bei IFSYS in der Werkshalle. Weiterentwicklungen gibt es ebenfalls. Weil die Ernte in jedem Jahr unterschiedlich ausfällt, muss die KI neu trainiert werden, um den Anforderungen gerecht zu werden. Auch an der Mechanik der Maschine wird weiter getüftelt, damit die 50 Nüsse in der Sekunde bald Realität werden. „Alles ist offen, aber wir müssen uns in diese Richtung weiterentwickeln“ - Adelbert Demar von IFSYS brennt nach wie vor für das Projekt und experimentiert bereits mit neuen Ideen zur Weiterentwicklung der Maschine - neben der bereits möglichen Sortierung von Linsen, Bohnen oder Kichererbsen denkt er beispielsweise auch an die Geschlechtsbestimmung von Küken im Ei und weitere Anwendungsfälle im Agrarbereich. Auch für Standardanwendungen gibt es Denkanstöße, um die Technologie der Zukunft im Sondermaschinenbau im Hause IFSYS weiter voranzutreiben. Die prognostica, die als Zielmarkt bisher große Konzerne im Fokus hat, richtet sich immer mehr auch auf kleine und mittelständische Unternehmen aus, weil sich hier - gerade auch im Bereich der Hidden Champions in der Region Mainfranken - viel tut und die Technologie erfolgversprechend vermarktet werden kann. Die Haselnuss Großbardorf GbR denkt derweil in Fläche und strebt für die Zukunft eine Erweiterung auf 18 bis 20 Hektar an. Auch wenn keinerlei Fördermittel für das Projekt zur Verfügung standen, war der Aufwand für die KI-Implementierung durch prognostica sein Geld absolut wert, ist der Konsens sowohl bei IFSYS als auch bei Valeria.

„Wir brauchen die Unterstützung von regionalen Partnern. Dass wir uns gegenseitig zur Seite stehen, ist ganz wichtig.“

- Markus Helmerich

Und die Maschine? Die gibt’s zu mieten - und bald auch zu kaufen. Sie kann mit relativ wenig Aufwand umgerüstet und außerhalb der Haselnusssaison als Sortiermaschine für andere Lebensmittel eingesetzt werden. Die Selektionskriterien sind individuell einstellbar, im Falle der Großbardorfer Haselnuss werden 9 verschiedene Klassen in fünf Fächer sortiert. Die Maschine ist so konzipiert, dass sie durch eine 90 cm-Standardtür passt, mit einem Kleinbus transportierbar ist und überall, wo es Drehstrom gibt, in Betrieb genommen werden kann. Das langfristige Ziel der Unternehmer ist es, den Bekanntheitsgrad zu steigern, die Maschine wirtschaftlich zu vermarkten - und natürlich in Kontakt zu bleiben, denn es gibt kaum bessere Erfolgsfaktoren für ein gemeinsames Projekt als die regionale Nähe.

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Bildquelle: Samuel Becker